Doppelgänger

So., 14. Juni 2020

Brief von Jutta Schwarz - Gedanken zur Eins zu Eins Performance-Recherche VERLAGERUNGEN-TRANSLOCATIONS von Anita Kaya

Liebe Anita, 

Ich war eine der ersten Besucher*innen bei Deiner Performance „Verlagerungen –Translocations“. Am Ende, nach einem langen Gespräch, hast Du mich gefragt, was von diesem Nachmittag wohl bei mir hängen bleiben wird, „aber das kann man wohl erst in einigen Wochen sagen“, hast Du hinzu gefügt. 
Jetzt sind einige Wochen vergangen, und ich stelle fest, dass ich nicht mehr alles, aber sehr vieles erinnere. Natürlich verwebt und durchwachsen mit eigenen Erinnerungen und Fragestellungen, - aber als ein eindrückliches Ganzes, eine „Gestalt“, ein Geflecht von Bildern, Themen und Assoziationen, die einander gegenseitig beleuchten.

Eins zu Eins-Begegnungen zwischen Perfomer*in und Zuschauer*in sind selten, weil luxuriös. Aber sie sind radikal notwendig, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Einzelperson lenken, die für gewöhnlich nur eine anonyme Teilmenge des „Publikums“ ist – 
und sie wirken umso länger nach, je mehr mir, der einzelnen Besucher*in, auch Raum und Zeit gegeben wird. 
So war es bei „Verlagerungen – Translocations“, eineinhalb Stunden hattest Du für jede dieser Begegnungen eingeplant. Du, die Einladende, hast die Führung übernommen, erzählt, meine Fragen beantwortet, Bilder und Themen angeboten, und ich, die Besucherin, hab sie aufgegriffen und weitergesponnen. 
Ich bin sicher, dass alle Begegnungen, jeweils abhängig von der Person, auch sehr unterschiedlich verlaufen sind. Diese Reaktionsfähigkeit und Offenheit für das Hier und Jetzt ist nach meinem Verständnis die besondere Qualität von Performance – und, als hättest Du es mit diesem Eins zu Eins-Format vorausgeahnt, haben sich die Aufführungsdaten auch ziemlich genau mit den ersten Maßnahmen zu Covid-19 gedeckt. Als ich Gast Deiner Performance war, das war noch in der Erprobungsphase, war vom Abstand allerdings noch nicht die Rede, und Covid-19 hat in unseren Gesprächen und Reflexionen auch noch gar keine Rolle gespielt.  

Die Führung hat in der Küche begonnen, mit einer Tasse Tee, sehr casual… An der Wand die Bilder Deiner jungen Eltern, 50er Jahre Atmosphäre, die Mutter erinnert an Gina Lollobrigida, der Vater, mit Schnauzbart, an einen Countrysänger, dessen Name ich vergessen habe.(1) So haben sich die beiden auch gestylt, erzählst Du, das war Ihr Image. Sie arbeiteten beide in einer Spinnereifabrik, und zugleich inszenierten sie sich als die Doppelgänger zweier Stars. Während wir zum großen Raum hinuntergehen denke ich an die  Stylingversuche meiner Gymnasialzeit in den 50er Jahren, den Wunsch von Stars ein bisschen Glanz zu borgen, und dahinter ein depressives Sumpfgefühl, als müsste ich, wie alle anderen, unabwendbar in belanglosen Äußerlichkeiten versinken.  

Der große Raum ist abgedunkelt, im Dämmerlicht wirkt er, als wäre alles erst im Aufbau, noch halb verpackt.  
Ich wusste, dass diese Performance auch aus Deinem Bedürfnis entstanden ist, Dein riesiges Archiv in den Griff zu kriegen und bin deshalb erstaunt, dass die Installation dieses „Zwischenlagers“ aus relativ wenigen Gegenständen zu bestehen scheint. Das ist irgendwie erleichternd, weil ich mich vor der Konfrontation mit sehr viel Material etwas gefürchtet habe. Ich wollte nicht zu sehr an mein eigenes Archiv erinnert werden, dessen Umfang und Ungeordnetheit eher Panikzustände bei mir auslöst, so dass ich es lieber verdränge. 
Aber diese „Auslagerung“ scheint nicht zu überfordern. Langsam, Station für Station, holen wir mit Taschenlampen einzelne Objekte aus dem Zwielicht.   
Im Vorübergehen eine Schale mit vielen verschiedenen Fragen, jede einzelne regt zum Nachdenken an.  „Die Überbleibsel eines Brainstormings“, sagst Du. Einige der Fragen werden später wiederauftauchen. 
An der Wand nochmals das Bild Deines Countrysänger/Vaters, -  
dann eine große Weltkarte aus den 50er Jahren, wie ich sie in meiner Schulzeit kannte, -  dann mehrere Fotos: das erste Auto, Anita als Kleinkind auf dem Schoß der Großmutter, beginnender Luxus, familiäres Glück.…

Du lenkst meine Aufmerksamkeit auf eine Collage auf dem Boden, mehr mittig im Raum, unscheinbar, fast wäre ich draufgetreten.
Sie ist in der Vorbereitungszeit für diese Performance entstanden, erzählst Du, als ein Referenzpunkt ins Heute. Ich sehe zwei Bild-Cluster, dazwischen kurze Texte… 
Die Bilder links reißen mich jäh aus der 50er Jahre-Idylle: es sind es Bilder der Zerstörung, Schützengräben, Naziembleme, Konzentrationslager, Unmenschlichkeit. 
Klar, denke ich, das alles lag damals ja kaum 10 Jahre zurück und wurde so schnell als möglich verdrängt, für Wiederaufbau und Wachstum, für bisschen Glamour, Luxus und Heimeligkeit. Aber untergründig hat „Es“ sein Unwesen weitergetrieben, bis heute. Und jetzt drängt Es wieder nach oben - und neuerlich an die Macht. Wie damit umgehen? Wie das Aufsteigende abwehren? Und wie geht es weiter? Darum kreisen auch die Texte auf der Collage, Gedanken, Überlegungen, viele Fragen… 
Sie leiten über zur rechten Seite. Auch hier ein Cluster von Bildern der Verwüstung, brennende Wälder, überschwemmte Küsten, überfüllte Flüchtlingslager, Unmenschlichkeit. Das sind Bilder einer Zukunft, die uns bevorsteht, wenn es nicht gelingt den Klimawandel abzubremsen, denke ich. 

Ich schaue auf die Weltkarte auf der Wand gegenüber, so viele Sehnsuchtsziele von damals sind heute Brennpunkte von Krisen, Kriegen, Terror. Damals fruchtbare Landstriche sind heute von kriegsauslösenden Umweltkatastrophen bereits so verwüstet, dass sie die Menschen nicht mehr ernähren. Auch wir könnten in wenigen Jahrzehnten zu Flüchtlingen werden, für Europa sind anhaltende Dürren und großflächige Versteppung vorausgesagt, nur wohin dann noch flüchten? Und wie wird man dann mit uns Flüchtlingen umgehen? Werden wir in desolaten, mehrfach überbelegten Lagern hausen, wie die Flüchtlinge in Griechenland heute? Plötzlich wird mir klar, hier geht es nicht um die Schrecken der Zukunft, das sind Zeitungsausschnitte der Gegenwart, Bilder aus heutigen Flüchtlingslagern, das alles passiert ja schon, jetzt, neben uns. Ein Moment der Scham, ich hab die Schrecken der Gegenwart ausgeblendet, in die Zukunft verlagert, um der eigenen Idylle willen? Nein, ich bin nicht vor Verdrängung gefeit.  

Du richtest Deine Taschenlampe auf einen Reisekoffer aus den 20er/30er Jahren gleich daneben…. Wir öffnen ihn, drinnen ein umwickeltes, zusammengeschnürtes Fell, eine Jagdtrophäe aus der Kolonialzeit? Eine riesige Insektenlarve? Du ziehst das Ding durch den Haken an der Decke hoch, es hängt da wie verpuppt, eingesponnen in einen weißen Kokon.
Die Fäden führen zu Garnspulen im Koffer, Relikte aus der Garnfabrik, dem Arbeitsplatz Deiner Eltern. Darunter, am Boden des Koffers, noch eine dicke Schicht Zeitungen. Die Schlagzeile auf dem obersten Blatt, aufdringlich groß und fett, lässt mich zurückzucken: ein Aufruf zur Hatz gegen „entartete Kunst“. Im ersten Moment der Gedanke: Ist das ein Schmierblatt von heute? Sind wir schon wieder soweit? Ist das heute schon möglich? Erleichterung, es sind Zeitungen aus den 30er Jahren, bei der Renovierung Deines alten Fußbodens sind sie unter den Brettern zum Vorschein gekommen. 

Wir setzen uns auf ein zerschlissenes, in Plastik verpacktes Sofa, betrachten die monströse haarige Larve, die da an den Fäden ihrer Umschnürung baumelt. „Das war der Pelzmantel meiner Großmutter väterlicherseits“, sagst Du, und dass Du sie sehr geliebt hast. Zu Dir war sie gut, aber zu anderen war sie oft kalt, hart, und wenig gefühlvoll. Das hast Du damals nicht verstanden, aber wie Kinder das tun, hast Du Dich mit den Unverständlichkeiten der Erwachsenenwelt halt arrangiert. 
Und dann, da warst Du schon erwachsen, der Schock: die geliebte Großmutter hat sich plötzlich, wie beiläufig, als überzeugte Nazi entpuppt, ungebrochen bis heute… 
Wir sprechen über den Schmerz und die Wut der Ent-Täuschung, über die Konfrontation mit der Schattenseite dieser Frau, die Dir so nah war, der Du vertraut hast. Jekyl entpuppt sich als Hide. Die tiefe Verunsicherung, die ein solcher Einbruch mit sich bringt, ist mir vertraut, und auch die Suche nach Wegen damit umzugehen.

Du führst mich zu einem Koffer mit bunten, flattrigen Anzügen und Kleidern, alle in paarweiser Ausführung, Kostüme für ein Stück über die Figur des Doppelgängers, das Du mit Akemi Takeya entwickelt hast, TSURU TSURU, das Gleiten der Zeit.(2) 
Daraus ist ein Kurzfilm entstanden, den wir nun anschauen, „Holly, Holly, Hollyluia“ (3), keine Dokumentation, sondern die Untersuchung des Doppelgänger-Motivs mit filmischen Mitteln, Collage, Schnitt Rhythmisierung, Wiederholung Variation... Ich staune über Deine große Affinität zu diesem Medium, das war mir nicht so bewusst. Klar, dass dieser Film auf so vielen Festivals eingeladen war! 

Du öffnest den letzten Koffer, ziehst eine Jalousie heraus. Sofort erinnere ich mich an die Performance: „BACKSPACE-ein VideoTanz aus dem Familienalbum“.
Die Film-Dokumentation greift Ausschnitte aus der Performance heraus, grotesk übersteigerte Momentaufnahmen aus Deiner Kindheit, konzentriert sich aber dann auf eine Szene, schmerzhaft lang, und eben deshalb so eindringlich. 
Miguel Gaspar als „Der Vater“ und Norma Espejel als „kleine Tochter“ auf seinem Knie. Er schnellt sie hoch und fängt sie auf, wieder und wieder, das Kind jauchzt, der Vater lacht, grinst in die Kamera, was für ein toller Vater, was für ein toller Spaß! Aber der Spaß wird wilder, das Kind plumpst immer heftiger auf das Knie des Vaters - und genau auf der Kippe bevor das Kind zu weinen beginnt, bremst der Vater das Spiel – um es dann wieder zu steigern, höher und höher, bis das Kind erneut vertrauensvoll jauchzt, um nur noch härter auf das Knie des Vaters zu prallen. 
Ein sadistisches Spiel, unangreifbar maskiert als liebevolle Zuwendung. Eine entlarvende Szene, die mir vertraut ist, wie oft hab ich – nicht nur als kleines Mädchen - „gute Miene zum bösen Spiel gemacht“.

Du gehst hinauf in die Küche, um Tee zu machen. Ich sitze auf der Couch, meine Blicke wandern durch den Raum, durch die einzelnen Stationen, bleiben hängen an der monströsen,  pelzigen Insektenlarve, die sich an ihren Fäden im Raum langsam dreht, unheimlich, wesenhaft, wie ein Fetisch, denke ich - Relikt eines Voodoo-Rituals. Ihre Verschnürung erscheint mir jetzt als der Versuch einer Fesselung, Bannung dessen, was weggesperrt war und jetzt wieder hochsteigt - aus dem geöffneten Koffer, in dem ich den ekligen Bodensatz weiß, Hetzblätter - von damals…

Du kommst zurück, wir trinken Tee, reden über die Filme, die Installation, über die einzelnen Stationen und das Motiv des Doppelgängers, das wie ein Leitfaden diese Performance durchzieht, in so vielen Facetten, als Sehnsuchts- und Schreckensbild, als Schatten des Verdrängten, Weggepackten, das als Wiedergänger plötzlich real werden und Gestalt annehmen kann.

Als ich schließlich gehe, habe ich das Gefühl nicht nur viel über Dich erfahren zu haben, sondern auch einiges über mich, das mir noch zu denken geben wird. Beim Abschied umarme ich Dich, es wird die letzte Umarmung für lange Corona-Wochen gewesen sein. 

Ich habe diesen Text um Ostern herum geschrieben, bereits in Corona-Quarantäne. Mittlerweile sind viele weitere Wochen vergangen, und immer wieder hab ich mich gefragt, warum ich diesen Text nicht endlich abschicke, wie doch versprochen.  Aber ich hab gespürt, da steht noch etwas an, eine persönliche Schlussfolgerung, nur – wie kann ich alle diese Informationen, Gedanken, Gefühle… in Worte  fassen?  Das hat mich unterschwellig ständig beschäftigt und nicht losgelassen. Dabei ist Deine Collage mehr und mehr zu einem Bezugspunkt geworden, um den ich gekreist bin, eine Auseinandersetzung mit der Verdrängung, ihren Ursachen und Folgen, und die Frage: was alles verdrängen wir heute?
Ich hab mich verrannt in ein Labyrinth von immer neuen Informationen, Gedanken, Gefühlen,…Seiten um Seiten geschrieben, gekürzt, umgeschrieben, in Zweifel gezogen, und gebe jetzt einmal auf, um Dir zu schicken, was konkret da ist. 

Gleichzeitig möchte ich Dich etwas fragen: 
Ulrike Kuner von der IG Theater möchte im ersten Herbstheft der Gift ein Interview mit Anna (meiner Tochter) und mir machen. Besser gesagt einen Abschnitt, in dem Anna und ich uns gegenseitig interviewen, und dann zwei getrennte Interviews. Anna hat Ulrike schon jemanden genannt, die sie interviewen wird, und ich habe Dich genannt, was Ulrike sehr gut fand.  
Wenn Du zusagst, werde ich das Ulrike gleich schreiben, sie würde Dir dann mailen, was die Bezahlung und den Rahmen angeht. Wichtig ist die Deadline, das ist der 10. September. 

Ich hoffe Du hast Zeit, und vor allem auch Lust dazu.
Bitte um Antwort! (5)

Alles Liebe!
Jutta 

Anmerkungen von Anita Kaya:

(1) Jason King (verkörpert von dem Schauspieler Peter Wyngarde), eine britische 1970er-Fernsehserie.

(2) TSURU TSURU - DAS GLEITEN DER ZEIT, Tanzperformance, 1993/94
Leitung: Anita Kaya, ​Choreografie / Tanz: Anita Kaya, Akemi Takeya, Musik: Toni Burger, OYA-Produktion, dieTheater Künstlerhaus Wien, gefördert von Stadt Wien, BMUKK und Land Vlbg

(3) HOLLY, HOLLY, HOLLYLUIA, 1992, 5'
entstanden im Rahmen des Festivals "TANZSPRACHE 92", WUK, Wien, eine No-Budget Produktion.
Künstlerische Leitung: Anita Kaya, Choreografie / Performerinnen / Schnitt: Anita Kaya, Akemi Takeya, Musik: Dieter Strehly, Edgar Aichinger, Kamera: Anita Kaya, Krisha Piplits, Dieter Strehly, OYA-Produktion

(4) BACKSPACE - TÄNZE AUS DEM FAMILIENALBUM - EINE INTER-​MEDIALE PERFORMANCE, 1994-99, Leitung/Choreografie: Anita Kaya / Tanz/Schauspiel: Anita Kaya, Miguel Gaspar, Norma Espejel / Projektionen: Fritz Fitzke / Musik: Chrischa Piplits, Amadeus Kronheim / OYA-Produktion / gefördert von Stadt Wien, BMUKK und Land Vlbg
BACKSPACE - VIDEOTANZ AUS DEM FAMILIENALBUM, 1995, 5'
Idee, Regie: ​Anita Kaya / Choreografie: ​Anita Kaya in Zusammenarbeit mit Miguel Gaspar & Norma Espejel / Performer:​Miguel Gaspar, Norma Espejel / Musik: ​Live-Aufnahme traditioneller mexikan. Musik (Oaxaca, Okt. 94) / Soundtrack: ​Edgar Aichinger / Licht: ​Ferdinand Stahl, Chrischa Piplits / Kamera, Schnitt: ​Ferdinand Stahl, Anita Kaya / ​produziert in der Medienwerkstatt, Wien, gefördert vom BMUKK

(5) Das Interview mit Jutta Schwarz ist ist in der GIFT 3/2020 erschienen:
"Für mich war die Exklusivität des Theaterraums auf Dauer nicht wirklich befriedigend"
– Jutta Schwarz im Gespräch mit Anita Kaya