Die Verbindungen, die befreien

Do., 28. September 2023

„ZAD partout als politisches Programm?“ Über radikalen Aktivismus und Reformismus in der Gegenwart - von Kilian Jörg & Michael Hirsch

Dieses Textprojekt wurde im Auftrag von im_flieger nach dem Stoffwechsel-Labor 2023 bei Longo Mai und intensivem Austausch mit Anita Kaya, Lisa Hinterreithner und Claudia Heu von Michael Hirsch und Kilian Jörg verfasst. Ursprünglich waren 10 Seiten geplant, mittlerweile sind es 40 - Tendenz weiter wachsend. In dieser Online-Veröffentlichung wollen wir einen kleinen Einblick in ein uns beide sehr in seinen Bann setzenden Textprojekt geben, welches eines Tages vielleicht ein mal ein Buch sein wird. Die Quellenangaben sind noch unsauber. Genauso werden sicher noch Fehler, Unklarheiten und Fragen im Text vorhanden sein - wir intendieren mit dieser Veröffentlichung eine Art "Baustellenbesichtigung" zu ermöglichen, wie wir es bei der Veranstaltung am 14.10 in Wien angeboten haben.

 

Die Verbindungen, die befreien“

ZAD partout als politisches Programm?“ Über radikalen Aktivismus und radikalen Reformismus in der Gegenwart

 

 

Gelähmt in der Katastrophe – die aktuelle Malaise „der Politik“

„Das System bricht überall um uns herum zusammen in genau jenem Moment, in dem viele Personen die Fähigkeit verloren haben, sich das Funktionieren eines anderen Systems vorzustellen.“ (Graeber, 13) Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist der Satz „Es gibt keine Alternative“ zur zentralen Legitimationstechnik des neoliberalen Kapitalismus geworden. Dies führt zur paradoxen Situation, dass selbst hohe Würdenträger wie der UN-Generalsekretär oder der Papst die katastrophale Lage der Welt eingestehen können, fast alle europäischen Nationen den „Klimanotstand“ ausgerufen haben – und sich trotzdem rein gar nichts am System ändert. Seine Veränderungsfähigkeit angesichts der ökologischen Katastrophe scheint sich auf das Präfix „grün“ zu beschränken, welches an fast jede Maschine und Institution einfach ohne wesentliche Änderung der Struktur gehängt wird. Grüne Verbrennermotoren, Green Economy, Klimaneutrale Flughäfen, Klimaautobahnen, Recyclebare Plastikflaschen, Grüner Kapitalismus, und so weiter… .

In dieser vertrackten Situation kann ein Impuls zum radikalen Wandel nur von Außen kommen. Dieser Artikel möchte das im deutschsprachigen Raum noch viel zu wenig bekannte Konzept der ZAD einführen und sich ausgehend von dieser Fragen zu einer potentiellen Übersetzbarkeit ihrer utopischen Impulse in eine (noch-)moderne, (noch-)nationalstaatlich verfasste Welt als „progressive Politik“ (mit großen P) stellen. Als Basis für diese Diskussion werden wir manche [prominente] Stimmen aus dem – großteils – frankophonen Diskurs übersetzen und kommentieren. Hauptsächlich beziehen wir unsere Quellen und Impulse aus dem Sammelband Éloge des mauvaises herbes – Ce que nous devons à la ZAD, dem Gesprächsband Ethnographies des mondes a venir zwischen Philippe Descola und Allessandro Pichnochi, dem vom Kollektiv L‘Insomniaque herausgebrachten Band „ZAD Partout“ (Zad überall) sowie – last but not least – auszahlreichen Gesprächen mit diversen Akteur*innen in der französischen Aktivismuszene (die wir aus meist offensichtlichen Gründen nicht explizit machen können).

Ausgehend von dieser reichhaltigen Quellenlage versuchen die beiden Autor*innen, die diesen Text geschrieben haben, zweierlei:

1) einen Überblick über einen „rechtrheinisch“ noch viel zu wenig bekannten Diskurs anzubieten

2) die diversen Materialien und Stimmen, die wir über die Jahre in einem intensiven Austauschprozess untereinander und mit den anderen Akteur*innen des künstlerischen Forschungscluster „Stoffwechsel – Ökologien der Zusammenarbeit“ (insbesondere Anita Kaya und Lisa Hintereithner) angesammelt haben, zu einem philosophischen Austausch über gewisse ideologische Gräben innerhalb „der Linken“ auch als textuelle Praxis auszudrücken. Wie wir weiter unten argumentieren, glauben wir, dass für eine zukunftsgewandte Politik Widersprüche vielmehr als Potential zur dynamischen (Weiter)Bewegung, denn als Hindernis verstanden werden müssen. Feste und solide Positionen werden in dieser pragmatischen Ansicht eher als altertümliche Rigidität denn als politisch progressive Position verstanden – uns interessiert primär das, was teils zwischen widersprüchlichen Polen in Bewegung gesetzt wird und vertrauen, dass diese Bewegungen dann in eine Richtung weitergeführt werden kann, die vielleicht unsere jeweiligen Positionen transzendiert. Wir, - das sind Kilian Jörg, der sich eher der anarchistischen „Bewegungslinken“Tradition nahe fühlt und Michael Hirsch, der sich eher der linksbürgerlichen Tradition eines radikalen Reformismus oder progressiven Etatismus zuschreiben würde -, haben in diesem Textprojekt zueinander gefunden, gerade weil wir einen produktiven Graben zwischen unseren politico-philosophischen Ansichten sehen, den wir gemeinsam erkunden wollten, um die jeweiligen Engstirnigkeiten im Dialog aufzuweichen. An manchen Punkten sind wir in diesem Prozess auch an Punkte gekommen, bei denen wir noch keine einheitliche Position gefunden haben. Vielmehr als diese auszuhandeln und vorschnell zu lösen, glauben wir, dass es produktiver und anregender ist, sie teils in ihrer Widersprüchlichkeit fett aufscheinen zu lassen. Teile, bei der unsere Ansichten explizit auseinander gehen, sind demnach fett unterlegt, um die Prozessualität an diesen Punkten sichtbar zu machen (und manche Schamgrenzen und Egomanien zu respektieren.)


 

Was ist die ZAD?

ZAD bedeutet Zone á defendre – „zu verteidigende Zone“ – und ist ein aus dem Anarchismus stammendes Konzept der progressiven Einforderung [Reclaiming] von Territorium. Durch eine vermischte Mobilisierung verschiedener Akteur*innen wie lokaler Bäuer*innen/Bewohner*innen, Politiker*innen und autonomer Szenen versucht man ein bestimmtes Territorium als frei von staatlich-kapitalistischem Zugriff zu deklarieren und in ihm eine andere mögliche Welt präfigurativ zu verwirklichen. Zur Zeit gibt es mehr als zehn ZADs in Frankreich, sowie ein paar in Spanien und der Schweiz. Der erste Versuch, das Konzept der ZAD in Deutschland zu verwirklichen, ist mit der brutalen Räumung von Lützerath im Januar 2023 vorerst gescheitert. Wohingegen das Konzept im deutschsprachigen Raum außerhalb von wenigen kleinen Szenen weithin unbekannt ist, kennt es in Frankreich seit der medial stark rezipierten Zuspitzung des Konflikts um die ZAD in Notre-Dame-de-Landes zwischen 2012 und 2018 fast jede* Bürger*in. Seit dem Erscheinen außerdem diverse Schriften und Studien aus dem Bereich der Philosophie, Anthropologie, Politikwissenschaft und Soziologie, die diese neue Strategie erforschen und so etwas wie einen utopischen Handlungs- und Imaginationsraum jenseits der kolportierten Alternativlosigkeit des Status Quo aus ihr ziehen. Wo „die Politik“ im Sinne der „demokratischen“ Institutionen der Nationalstaaten offensichtlich an der Klimakrise scheitert, können von diesen kleinen Mikropolitiken wichtige Impulse für die bitter notwendige Transformation ausgehen, so der Tenor. Wie es die prominente Ökofeministin Émilie Hache stellvertretend für viele ausdrückt: „la ZAD de Notre-Dame-des-Landes a été un des lieux les plus vivants de mise au travail du pensée ecologique.“ („Die ZAD von Notre-Dame-des-Landes war einer der lebendigsten Orte der Anwendung eines ökologischen Denkens.“) (Un Sol Commun, 49) Wir hoffen, dass wir mit diesem Text ein bisschen was von diesem Hoffnungsschimmer in den deutschprachigen Raum übersetzen können. Weiters wollen wir uns der bislang recht wenig behandelten Frage widmen, inwiefern die aktivistischen Mikropolitiken der ZAD eine Art Allianz mit progressiven Akteur*innen „der Politik“ eingehen können, um einen großspurigeren Wandel zu ermöglichen. Gibt es eine Möglichkeit, die ZAD nicht nur gegen „den Staat“ und „die Politik“ zu denken (wie das in den meisten anarchistischen Kreisen der Fall ist), sondern kann die ZAD eine Art politisches Programm für einen Staat werden, der sich seiner massiven institutionellen Gelähmtheit bewusst ist und aus dieser bereit ist, neue Auswege zu suchen, um eine dem Anthropozän gerechte Idee von „Progressivität“ zu formulieren (selbst wenn dies zu einer teilweisen und gesunden Aufgabe von Kompetenzen und Machtmonopolen desselben Staates führt).

Doch bevor wir uns dieser Frage widmen, führen wir nun einige Aspekte der ZAD, wie sie im großteils frankophonen Raum diskutiert werden, ein. Übrigens meinen wir, wenn wir im folgenden von der ZAD reden, zumeist die ZAD Notre-Dame-des-Landes im Nordwesten von Nantes. Hierbei folgen wir den französischen Gepflogenheit. Denn bisher war nur diese ZAD wirklich erfolgreich.

[...]

 


 

Imaginez…

„Imaginez que le gouvernement n‘ai jamais realisé d‘operations militaires sur la ZAD ni sur aucune ZAD. Imaginez qu‘il donne toutes les autorisations et qu‘il fasse confiance aux decisions des AG. Imaginez mainenant qu‘il investisse 400 000 Euro par jour (la cout des operations militaires) pour demonter l‘actuel aeroport de Nantes et le conventir en forets, bocages et zones humides….Imaginez...“ („Stellen Sie sich vor, die Regierung hätte niemals Militäroperationen gegen diese ZAD oder irgendeine andere ZAD durchgeführt. Stellen Sie sich vor, dass sie alle nötigen Genehmigungen erteilt und den Entscheidungen der AG's (???) vertraut hätte. Stellen Sie sich nun vor, dass sie 400.000 Euro pro Tag (die Kosten der Militäroperationen) investieren würde, um den gegenwärtigen Flughafen von Nantes zu demontieren und ihn in Wälder, Heckenlandschaften und Feuchtgebiete umzuwandeln. … Stellen Sie sich vor...“) (Servigne)

Auch wenn David Graebers Pessimismus gegenüber der gegenwärtigen Staatlichkeit verständlich ist (immerhin wurden seit dem weiterhin diverse ZADs in Saclay, Lützerath, Bure, de la Triangle, de la Colline und anderen Orten kostspielig für Mensch und Kapital angegriffen und teilweise vernichtet), wollen wir im zweiten Teil dieses Textes uns nun der hoffnungsfroheren – und heute leider großteils (noch?) spekulativen Frage widmen: was, wenn progressive Akteur*innen mit politischer Macht innerhalb des Staates dieses eben vorgestellte, ungeheure Potential der ZADs erkennen und fördern wollen? Der Staat wird nicht morgen und wohl auch nicht übermorgen verschwunden sein. Auch wenn dies als Langzeitziel wünschenswert sein mag, erscheint es uns trotzdem notwendig über kurz- und mittelfristige Bündnisse mit progressiven Akteur*innen innerhalb dieser staatlich-kapitalistischen Ordnung nachzudenken. Auch um den allerorts wachsenden Faschismen eine progressive Gegenerzählung einer wirklichen Alternative zur bestehenden Ordnung entgegen zu setzen. Denn die Unzufriedenheit und Frustriertheit mit der herrschenden Ordnung ist enorm. Und wenn es nicht gelingt, glaubhafte linke und emanzipatorische Ziele zu formulieren, an der sich eine Art progressive Richtung „der Politik“ definieren kann, droht die Gefahr eines Faschismus, der wohl auch die kleinste Keimzelle einer alternativen Welt erbarmungslos vernichtet.

Auch wenn es heute noch keine politische Partei oder Formation gibt, die auch nur daran denken würde, sich ein solches Projekt auf die Fahnen zu schreiben, gibt es immerhin schon diverse Stimmen von wichtigen Intellektuellen , die das unglaubliche Potential der ZAD erkennen und würdigen. Eines der prominentesten Beispiele ist hierbei die Starschriftstellerin Virgine Despentes, die sich in ihrer Solidaritätserklärung mit der ZAD ohne falsche Allüren als „Kollaborateurin und Profiteurin des Systems“ bezeichnet. Auch wenn sie „das Flugzeug nimmt“ und persönlich vom „totalitären System mit dem sie kollaboriert zu gut behandelt wird“ als dass sie sich vorstellen kann, sich in der ZAD niederzulassen, sieht sie das unglaubliche Potential der ZAD in einer Welt, die immer mehr Prekäre und Ausgestoßene produziert. Gerade weil es immer klarer ist, dass diese Welt keine lebbare und angenehme Zukunft mehr bereit stellt für die allermeisten, ist es wichtig diese von Despentes als „Forschungsarbeit“ bezeichnete Arbeit der Aktivist*innen zu unterstützen. Die ZADist*innen werden von der Prix Concourt-Schriftstellerin als „Forscher*innen“ gewürdigt und man könnte sich hiervon ausgehend fragen, warum man diese Forschungsarbeit an der Zukunft nicht auch finanziell renummerieren kann. Ganz entgegen des von der Boulevardpresse zum Skandal erhobenen Umstands, dass viele ZADist*innen staatliche Unterstützung in Form von Arbeitslosengeld beziehen, obwohl sie Anarchist*innen sind, können sich progressive Akteur*innen, die sich innerhalb der staatlichen Ordnung finden, fragen: wie können wir diese Arbeit noch viel mehr würdigen als mit der Auszahlung des Existenzminimums?

Zwei Probleme fallen einem hierzu sofort ein: einerseits begibt sich „der Staat“, solange er sich als Einheit begreift, in einen Widerspruch, wenn er einerseits Handlungen fordert, die gegen gewisse rechtsstaatliche Normen wie das Eigentumsrecht etc. verstoßen. Andererseits ist auch die Frage zu stellen, ob die finanzielle Entlohnung der Arbeit nicht auch das herrschende Wertregime („wertvoll ist das, was viel Geld kostet/erhält“) unterstützt, welches eigentlich zu überwinden wäre.


 

Binäre Gegensätze aufweichen: „Von oben“ und „von unten“

Vielleicht leben wir in einer Zeit, in der nicht nur in Genderfragen die einfachen, binären Gegensätze aufgeweicht und verflüssigt werden sollten, und in der diese Aufweichungen in Wirklichkeit schon überall in Ansätzen geschehen? Nur eben noch nicht ausreichend in gesellschaftlichen (politischen wie intellektuellen) Diskursen abgebildet und anerkannt. Zwar sollte man die stabilen Gegensätze und Feindbilder nicht in ihrer teilweise für die individuelle wie für Gruppenidentitäten wichtige, stabilisierende Kräfte unterschätzen. Doch ist absehbar, dass sie oftmals die eigentlichen Hemmnisse für fortschrittliche Prozesse, Allianzen und Ideen sind.

So ist unbestritten, dass es in den letzten Jahrzehnten eine Regression der Demokratie und demokratischer Verfassungen in den Staaten des globalen Nordens gegeben hat1 – dass die Ungleichheiten zugenommen, die Klassengesellschaft undurchlässiger und die demokratischen Partizipationsmöglichkeiten normaler Bürgerinnen und Bürger im Vergleich zu Oligarchen, Experten und Lobbyisten geringer geworden sind. Dennoch hat es in der gleichen Zeit eine weltweite Hochblüte populärer sozialer Bewegungen gegeben (Arbeiter-, Frauen-, Umwelt-, Racial Injustice und andere Bewegungen), und man sollte sich vielleicht mehr daran erinnern, dass die Durchlässigkeit des demokratischen Staates für populäre und minoritäre Kämpfe aller Art der eigentliche progressive Sinn der Verfassung der modernen Republik ist. Dies entspricht jedenfalls der radikal progressiven Interpretation der deutschen wie österreichischen Verfassungen in der Tradition der staatsrechtlichen Linken von Hermann Heller in der Weimarer Zeit, Wolfgang Abendroth in der Gründungsphase der Bundesrepublik oder Ingeborg Maus in der mittleren Phase. Das eigentliche Projekt der Demokratie liegt also darin, sie als noch nicht verwirklichtes Projekt zu verstehen, in dessen Rahmen die staatlichen Institutionen maximal offen werden für ihre Indienstnahme für die Interessen der Nicht-Herrschenden (also in der Umkehrung des Prozesses der real existierenden Oligarchie, in deren Rahmen die bestehenden Institutionen des Verfassungsstaates eher für die partikularen Interessen der Herrschenden in Dienst genommen und gegen die demokratischen Ansprüche der relativ Beherrschten verteidigt werden). Diese Öffnung kann sogar so weit gehen, dass die Demokratie irgendwann nicht mehr die staatliche Form für ihre Intitutionen benötigt und sich fluidere und horizontalere Formen des solidarischen Mutualismus entwickeln können – so die Utopie von zumindest eine*m der beiden Autor*innen.

Der normative Kern des demokratischen Projekts liegt also in der Dialektik von Bewegungen, Forderungen und Praktiken „von unten“, welche daran arbeiten, Bürgerrechte, soziale Rechte, Schutzrechte und Beteiligungsrechte der bisher relativ Beherrschten „von oben“ in Form von Gesetzen durchzusetzen und zu gewähren. Die Lektion, welche, Bruno Latour zufolge, die ZAD's dem Staat erteilen, liegt also genau in solchen Pointen der Umkehrung des Blicks „von unten“ und „von oben“. Sein Beitrag zur Diskussion um die ZAD's unter dem Titel „Wo die ZAD dem Staat eine gute Lehre erteilt“ insistiert auf der Notwendigkeit, die zwei Logiken miteinander zu verschränken, anstatt sie einfach nur einander gegenüberzustellen: der instituierenden Logik 'von unten' beim Versuch, gemeinsam die Commons „wiederherzustellen“ auf der einen Seite, der institutionalisierten staatlichen und privateigentumsrechtlichen Logik auf der anderen. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Zeitlogiken gegenüber, bei deren einfacher Opposition man aber nicht stehenbleiben darf:

„Les institutions et procédures au temps T-1 se trouvent en face des institutions et procédures au temps T+1. Le danger serait de croire qu'on pourrait ne pas instituer du tout, ce qui reviendrait à attendre trop peu de l'État après en avoir attendu beaucoup trop.“2

(„Die Institutionen und Prozeduren der Zeit Z-1 stehen den Institutionen und Prozeduren der Zeit+1 gegenüber. Die Gefahr läge darin zu glauben, dass man darauf verzichten könnte, überhaupt zu instituieren, was gleichbedeutend damit wäre, zu wenig vom Staat zu erwarten, nachdem man lange Zeit viel zu viel von ihm erwartet hatte.“)

Latour warnt also davor, die klassische Logik des Etatismus (vom Staat „zu viel“ erwarten) einfach nur mit der ebenso klassischen Logik des Anti-Etatismus (vom Staat „zu wenig“ erwarten) zu beantworten:

„Seul, il est aveugle et sourd. Et pourtant, sans lui, on ne peut ni durer, ni instaurer le bien public à l'étape suivante, dont il constitue, en quelque sorte, l'archive et la mémoire institutionelle.“3

(„Alleine ist er blind und taub. Und dennoch, ohne ihn kann man weder andauern, noch das Gemeinwohl auf der nächsten Stufe sichern, von welchem der Staat in gewisser Weise das Archiv und das institutionelle Gedächtnis bildet.“)

 

Latour weist hier auf einen zentralen Aspekt des staatlich gesetzten Rechts hin, seine Zeitlichkeit und Dauerhaftigkeit: Ohne dieses rechtliche Sicherungsmedium könnte schlechterdings nichts den Moment überdauern, sobald die initiale Energie verflogen ist; würden virtuell alle politischen Neuschöpfungen räumliche wie zeitliche Ausnahmen bleiben, im Modus von konkreten Utopien und Heterotopien ohne Verkettung mit der übrigen gesellschaftlichen Raumzeit.

Alleine schon die Sprache ist bei den ZADist*innen sehr lehrreich und politisch bedeutsam: Wenn die Bewegung der ZAD sich einen Begriff der staatlichen Bürokratie (ZAD: „Zone d' aménagement différée“) aneignet und für ihre Zwecke benutzt (ZAD: „Zone à défendre“), dann liegt in dieser semantischen Umdeutung eine bedeutsame Verschiebung des Begriffs der Entwicklung: Aus dem administrativen Begriff der Planung, der bisher fast schon wesensmäßig mit nicht nachhaltigen und meist nicht reversiblen Eingriffen in soziale und natürliche Ökosysteme verbunden war, mit Abriss- und Aushubarbeiten, Landschaftszerstörung und Neubauten (also einer extrem energie- und emissionsintensiven Form von Entwicklung), wird ein Begriff von Planung und Entwicklung, der eher auf die Bewahrung und Schonung sowie auf die Neu- und Umnutzung vorhandener sozialer und natürlicher Ökosysteme ausgerichtet ist.4 Im einen Fall geht es um eindeutig messbare wirtschaftliche Wertschöpfung, im anderen Fall um eine (in herrschenden Wertregistern) weniger gut messbare, aber mittlerweile ebenso evidente Form der Entwicklung und Raumplanung, die auf Biodiversität und andere – bessere? - Formen des öko-sozialen pluralistischen Zusammenlebens in der Klimakrise ausgerichtet sind.

1Vgl. Armin Schäfer/Michael Zürn, Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus, Berlin 2021

2Bruno Latour, Où la ZAD donne à l'État und bonne leçon, in: Éloge des mauvaises herbes. Ce que nous devons à la ZAD, Jade Lindgaard (Hg.), Paris: Éditions Les Liens qui libèrent, 2020, S. 93-101 (99)

3Ebenda, S. 99

4Vgl. Ebenda, S.94-95

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Politischer Aktivismus und zivilgesellschaftliche Arbeit: „Drinnen“ und „Draußen“ zugleich

Die eigentliche politische und volkswirtschaftliche Problematik besteht nun darin, dass bei dem bisher noch vorherrschenden Begriff von Raumplanung und Entwicklung sichtbare Gewinne in Form von Arbeitsplätzen und wirtschaftlichen Werten zu Buche schlagen. Während im Rahmen eines nachhaltigen Entwicklungsbegriffs eine Form von sozialer und ökologischer Care-Arbeit, von „earthcare labour“ (Carolin Merchant, Silvia Fedrici, Stefania Barca) vorliegt, die im Rahmen der gegenwärtig vorherrschenden Belohnungs- und Anreizsysteme (noch) nicht vergütet werden kann. Bislang existiert immer noch ein „hierarchical dualism between surplus-producing labour (within the market) and life-producing labour (mostly, but not only, outside the market).“1 Ohne eine rechtsstaatliche oder anders öffentlich institutionalisierte Anerkennung des Wertes von letzteren kann diese gesellschaftliche Hierarchie letztlich nicht ausgehebelt werden.

Sowohl die soziale und familiale Carearbeit als auch die ökologische sind in ihrer gesellschaftlichen Produktivität mittlerweile unbestritten. Sie können aber bisher im Rahmen der gegenwärtigen symbolischen und materiellen Wertschätzungssysteme noch nicht ausreichend gewürdigt, anerkannt und belohnt werden. Daher werden sie nach wie vor überwiegend im Rahmen von Regimen der Selbstbeauftragung und Selbstausbeutung ausgeübt – und oftmals außerhalb des vom Staat und Eigentum geprägten Rechtsraums, was zu einer weiteren massiven Erschwerung und Prekarisierung dieser wichtigen Arbeit führt. Diejenigen, die das natürliche, soziale, politische und kulturelle Leben verteidigen und reproduzieren, werden dafür bisher eher bestraft als belohnt.

Soll sich an dieser Konstellation etwas ändern, müsste man über neue Formen und Regime der Förderung und Wertmessung nachdenken. Das könnte dann dazu führen, dass die Diskurse der bürgerlichen Öffentlichkeit und die (noch) staatlichen Institutionen lernen müssten, den Begriff der Sorgearbeit viel allgemeiner zu fassen und über den engen Bereich der bürgerlichen Kleinfamilie hinaus als ökologisch-soziale 'earthcare labour', als für die Reproduktion der Gesellschaft ebenso wichtige (ja wichtigere, weil die nachhaltige Reproduktion des Lebens eben eher sichernde) Form von Arbeit anzuerkennen wie die kapitalistische Lohnarbeit auch2, und entsprechend nach Möglichkeiten zu suchen, darauf einen neuen Typ von sozialer Absicherung (in Form eines Sozialstaats oder anderen Solidaritätszusammenhängen) zuzuschneiden. Diese Absicherungen hätten dann wie eine Art pauschales zweites Gehalt zu funktionieren, das allen Bürgerinnen und Bürgern, Kommunardinnen und Kommunarden, Genossen und Genossinnen ein Auskommen sichert, welches ihnen die Arbeit in Familien, Freundschaftsverbänden, Bürgerinitiativen und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen aller Art ermöglicht.

Die „lecon“, die nach Latour die sozialen Bewegungen dem Staat heute erteilen, wäre also diejenige, dass Protestarbeit nicht nur nicht staatlich behindert und kriminalisiert werden sollte, sondern vielmehr staatlich und öffentlich gefördert: über das Sozialrecht, das Steuerrecht, das Stiftungsrecht, das Familienrecht usw. Damit würde endlich historisch das anerkannt, was seit Jahrzehnten der Fall ist: Die wichtigsten Impulse für gesellschaftliche Erneuerung kommen nicht mehr von Parteien und Staatsverwaltungen, Gewerkschaften oder Hochschulen, sondern aus sozialen Bewegungen, die dem Staat und der kapitalistischen Gesellschaft gegenüber kritisch eingestellt sind. Die Pointe wäre wie angedeutet eine doppelte: Der demokratische Staat erkennt die gesellschaftliche Produktivität politischer Aktivist*innen und sozialer Bewegungen an – und die politischen Aktivist*innen und sozialen Bewegungen werden „geerdet“, wie Ulrich Beck schon 1986 in seinem Buch Risikogesellschaft schrieb. Sie verlören damit einen Teil ihrer heroischen Außenseiter- und Widerstandsrolle (ein Prozess, der bei den allermeisten, je länger sie tätig sind, ohnehin schon immer am Werk ist), aber könnten langsam zu einer Anerkennung ihrer tatsächlich die spät-moderne, demokratische Gesellschaft noch am (halbswegs) funktionieren haltende Arbeit finden, ohne faule und zynische Kompromisse (Marke Daniel Cohn-Bendit oder Joschka Fischer) einzugehen .

Es könnte so ein neuer Zivilisierungsschub des Staates einsetzen: Nach einer historisch ersten Phase der Einführung von (begrenztem) Zensuswahlrecht im aufgeklärten Absolutismus, einer zweiten Phase von parlamentarisch-rechtsstaatlichen Monarchien (ebenfalls mit beschränktem Wahlrecht), einer dritten Phase von Republiken mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht, Koalitionsfreiheit für Gewerkschaften, allgemeinen Sozialversicherungssystemen und einer gesellschaftlichen Programmatik der gleichen sozialen und kulturellen Freiheit für alle, würde nun vielleicht eine historisch vierte Phase entstehen, in welcher eine auf Wohlfahrt ausgerichtete Demokratieeine neue, postpatriarchale und eine Postwachstums-Gestalt erhält. In dessen Rahmen wird die reproduktive gesellschaftliche Leistung von Care-Arbeiter*innen (vormals zumeist: 'Frauen') und politischen wie kulturellen Aktivist*innen verschiedener Art als gesellschaftlich gleichwertig zur produktiven, erwerbsgesellschaftlichen, männlich codierten Lohnarbeit anerkannt. Für diese neue historische Phase, welche den historischen Trend der Rückentwicklung der demokratischen Potenz des modernen Rechtsstaats umkehrt (im Rahmen dessen sich große Teile des fortgeschrittenen, aufgeklärten Denkens von der Arbeit in den potentiell fortschrittlichen Teilen des erweiterten Staatsapparates wie Parteien, Verwaltung, Justiz, Gewerkschaften, Schulen und Hochschulen zurückgezogen haben), wird man neues Personal und neue Allianzen gewinnen müssen. Jenseits der binären Oppositionen (Staat-Bewegung, Macht-Gegenmacht/Widerstand, konstituierte/konstituierende Macht usw.) geht es um eine ganze Reihe von Durchlässigkeiten, die zu erlauben und einzuüben sind?: Durchlässigkeiten von Karrierewegen, Berufen und Institutionen, Anerkennungen von hybriden, gemischten beruflichen Existenzen, die sowohl „drinnen“, in den Institutionen, wie „draußen“, außerhalb und gegen die Institutionen stattfinden. Das bedeutet dann auch, unsere ganzen Begriffe von Qualifikation, beruflicher Kompetenz und 'human ressources' neu zu denken und neu zu konfigurieren. Anders gesagt, Vielfältigkeit, Erfahrungen im Kontext von privater und sozialer, politischer oder ökologischer Care-, Organisations-, Protest- oder Kampagnenarbeit (also Pausen oder Lücken in der Erwerbsbiografie) müssten in Zukunft nicht mehr nur kein Einstellungs-, Karriere- oder Beförderungshindernis mehr sein, sondern vielmehr ein beruflicher Vorteil. Das würde dann nicht nur die Vergabe von Arbeitsstellen im Öffentlichen Dienst betreffen, sondern vielleicht auch bereits auch die von Studienplätzen: Formale Bildungsqualifikationen wie Schulabschlüsse reichen dann als Qualifikationsvoraussetzung für ein Hochschulstudium nicht mehr aus. Sie müssen ergänzt werden von Erfahrungen in zivilgesellschaftlicher politischer, kultureller, ökologischer, sozialer Arbeit und oder Carearbeit im mikrosozialen Bereich.

Natürlich ist ein solches Gedankenmodell nicht ganz leicht konkret zu operationalisieren. Geht es hier doch darum, dasjenige sichtbar zu machen und anzuerkennen, aufzuwerten, was ohnehin schon massenhaft geschieht. Aber es geht eben auch darum, dieses schon Existierende sowohl lebbarer zu machen für diejenigen, die bereits so leben, als auch noch attraktiver zu machen für Menschen und Menschengruppen, die davon bisher noch nicht affiziert sind.

Ein Haupteinwand wäre: Die generelle staatliche Anerkennung und finanzielle Förderung zivilgesellschaftlicher Arbeit der Reproduktion der sozialen, kulturellen und natürlichen Ökosysteme (zum Beispiel in Form eines Grundeinkommens, oder auch, flankierend, in Form eines generellen, erheblich ausgebauten sozialen Pflichtdienstes für alle Männer und Frauen aller Generationen, verbunden mit einem Sozialeinkommen) wäre schon eine Art Verstaatlichung. Aber was wäre die Alternative? Geht es doch hier um ein grundlegendes gesellschaftliches Entwicklungsproblem: Mit der Arbeit für eine bessere Welt, für die Reproduktion des Lebens, kann man bisher fast kein Geld verdienen, sondern eher nur mit Formen von Arbeit, die langfristig die sozialen und ökologischen Grundlagen des Lebens tendenziell untergraben. Daher stehen alle aufgeklärten jungen Menschen nach dem Ende ihrer Ausbildung und ihres Studiums bislang vor einer tragischen Wahl, einer falschen, unerträglichen Alternative. Eine staatliche Anerkennung bisher nicht anerkannter Formen von Gemeinwohlarbeit könnte die Tragik dieser Alternative abmildern und die Widersprüche lebbarer machen – anstatt sie wie bisher in der dauerhaften falschen Alternative von Zynismus oder Selbstaufopferung zu belassen. Denn die partielle 'Verstaatlichung' würde eben eine Normalisierung bedeuten, die die entsprechenden Arbeiten, Milieus und Lebensweisen sowohl für die bisher schon in ihnen Tätigen lebbarer macht, als auch für bisher ihnen gegenüber Skeptischen attraktiver.

1Stefania Barca, Forces of Reproduction. Notes for a Counter-Hegemonic Anthropocene, Cambridge: Cambridge University Press, 2020, S. 29, 33

2Vgl. hierzu den Vortrag „From Managerial Feudalism to the Revolt of the Caring Classes“ von David Graeber am Chaos Computer Club 2019. https://media.ccc.de/v/36c3-11241-from_managerial_feudalism_to_the_revolt_of_the_caring_classes

 

Photos: Anita Kaya