NIETZSCHE VERNUNFT KARTE - Dokumentation

Di., 14. November 2017

Im Rahmen der Stoffwechsel-Werkstatt 2017 habe ich mich mit Nietzsches Vernunftbegriffen auseinandergesetzt. Entgegen der abendländischen Vernunfttradition, die Vernunft immer im Singular und als Einheit beschwört, treten bei Friedrich Nietzsche mannigfaltige Vernünfte auf, die sich nicht unter einem Begriff sammeln lassen. Manchmal ist die klassische, kantianische "Vernunft" in seinem Werk ein sokratisches Blendwerk, ein transzendenter Taschenspielertrick der aus Verachtung gegen die Erde und den eigenen Leib sich ressentimentgeladen gegen sie richtet. Andere Male treten in seinen emphatisch geschriebenen Aphorismen andere Vernünfte auf, die dem Leib inne wohnen, von da – und in Übereinstimmung mit Natur und Sinnen – aus agieren und den reformierten Übermenschen mit seinem Boden und seiner Bestimmung vereinen. Hierbei sind eindeutig ökologische Motive maßgebend und für meine Forschung ist Nietzsche deshalb zentral, weil sich hier sehr früh ein neues Vernunftparadigma herausstellt, dass die nächsten Jahrhunderte beschäftigt hält: einer Kritik einer der Leib und den Leidenschaften entgegengesetzten Vernunft wird ein anderer Vernunftbegriff hinzugesellt, der milieusentiv und vom Leib und den Leidenschaften ausgehend ganz andere Wahrheiten und Gesetze beschwört. 

Die Karte ist insgesamt 10 Meter lang und deshalb nicht leicht zu dokumentieren. Unten findet sich ein Downloadlink zu einem Zusammenschnitt mehrerer Fotos zur gesamten Karte, auf der sich alle Einträge lesen lassen.
Insgesamt kommt der Begriff "Vernunft" in Nietzsches Gesamtwerk (bestehend aus seinen Publikationen, sowie den Gesammelten Fragmenten und Briefen nach nietzschesource.org) 690 mal in 467 Texteinheiten vor. Diese sind nach Themenclustern und anhand von zwei Achsen auf der Karte angeordnet: die horizontale Achse ist eine Zeitachse: links beginnen die frühesten Schriften Friedrich Nietzsche 1867, rechts endet die Karte mit den fulminanten Selbstbejahungen seines letzten Buches Ecce Homo von 1889, nach dem Nietzsche bald in die so genannte "geistige Umnachtung" fiel und in dieser bis zu seinem Tode 1899 als Pflegefall und unansprechbar in der Obhut seiner Schwester blieb.

Die vertikale Achse bildet eine "gut-schlecht" Achse (gut oben, schlecht unten), wobei diese - soviel muss von Nietzsche gelernt werden - relativ frei, assoziativ und intuitiv vorgeht und keinesfalls einem scharfen Raster folgt. Mehrfarbige Pfeile, handgeschriebene Begriffe sowie manche Bilder und Schriftbilder sollen zu einer besseren und intuitiven Orientierung in Nietzsches Vernünften beitragen. Jene Texteinheiten, die zu seinen Werken zugehörig sind, sind in farbigen Blasen wie im Bild oben (in diesem Beispiel die späten Werke Der Antichrist und Götzendämmerung von 1888, sowie am rechten Rand der Beginn von Ecce Homo) angeordnet.

Im folgenden sollen ein paar Erkenntnisse, die ich bei der zweiwöchigen Intensivarbeit an der Karte zu Nietzsches Vernünften gewonnen habe, festgehalten werden. Diese haben mehr den Charakter einer Skizze als jenen von fertig formulierten und gedachten Thesen.

Interessant ist, dass Nietzsches erstes als "eigenständig" bezeichnetes Werk Menschliches, Allzumenschliches (1878) teilweise einen relativ klassisch-aufklärerischen, fast schon bieder-kantianischen Vernunftbegriff vertritt, den Nietzsche in seinem späteren Schaffen vehement bekämpft. So schreibt er z.B. im § 265: "Die Vernunft in der Schule. — Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion."

Dieser relativ konservative Vernunftbegriff führt Nietzsche in seinen Notizen direkt nach der Publikation von Menschliches, Allzumenschliches zu einer Art Verdauungs- und Schockreaktion, die ihm (diese) Vernunft gänzlich ablehnen und von sich stoßen macht. Ein paar O-Töne aus den nachgelassenen Fragmenten von 1881: "Sich an die Vernunft halten wäre schön, wenn es eine Vernunft gäbe! Aber der Tolerante muß sich von seiner Vernunft, ihrer Schwäche abhängig machen! Dazu: es ist zuletzt nicht einmal diese, welche den Beweisen und Widerlegungen ihr Ohr schenkt und entscheidet." "Die Vernunft! Ohne Wissen ist sie etwas ganz Thörichtes, selbst bei den größten Philosophen. Wie phantasirt Spinoza über die Vernunft ! Ein Grundirrthum ist der Glaube an die Eintracht und das Fehlen des Kampfes — dies wäre eben Tod! . — Ob die Vernunft bisher im Ganzen mehr erhalten als zerstört hat, mit ihrer Einbildung, alles zu wissen, den Körper zu kennen, zu 'wollen' — ? Die Centralisation ist gar keine so vollkommene — und die Einbildung der Vernunft , dies Centrum zu sein ist gewiß der größte Mangel dieser Vollkommenheit." "Es giebt gar keine Vernunft der Art, und ohne Kampf und Leidenschaft  wird alles schwach , Mensch und Gesellschaft." "Sonderbar: das worauf der Mensch am stolzesten ist, seine Selbstregulirung durch die Vernunft, wird ebenfalls von dem niedrigsten Organism geleistet, und besser, zuverlässiger! Das Handeln nach Zwecken ist aber thatsächlich nur der allergeringste Theil unserer Selbstregulirung: handelte die Menschheit wirklich nach ihrer Vernunft d.h. nach der Grundlage ihres Meinens und Wissens , so wäre sie längst zu Grunde gegangen. Die Vernunft ist ein langsam sich entwickelndes Hülfsorgan, was ungeheure Zeiten hindurch glücklicherweise wenig Kraft hat, den Menschen zu bestimmen, es arbeitet im Dienste der organischen Triebe, und emancipirt sich langsam zur Gleichberechtigung mit ihnen — so daß Vernunft (Meinung und Wissen) mit den Trieben kämpft, als ein eigener neuer Trieb — und spät, ganz spät zum Übergewicht ."

Besonders im Frühwerk ist Nietzsches Denken also von einem "Kampf der Vernunft gegen die Vernunft" geprägt - das alte Bild einer sokratisch-christlichen Vernunft ist vorherrschend, doch schon ganz früh treten auch immer wieder positive Affirmationen von Vernünften in der Nähe der Kunst, der Natur und des Leibes auf. Auf die Thematik des Leibes kommt Nietzsche zum ersten Mal zentral nach seinem Bruch mit Richard Wagner: "Jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Verunft, welcher in Allem und Jedem ein Wunder und Unding sehen will — dazu eine ganz entsprechende Barockkunst der Überspannung und der verherrlichten Maßlosigkeit — ich meine die Kunst Wagner’s — dies Beides war es, was mich endlich krank und kränker machte und mich fast meinem guten Temperamente und meiner Begabung entfremdet hätte." (Brief AN Mathilde Maier vom 15/07/1878)

Im Dunstkreis dieser Reflektion treten auch schon in Menschliches, Allzumenschliches klare ökologische Aspirationen einer solchen leiblichen Vernunft auf: §189: "Wir müssen vielmehr der grossen Aufgabe in’s Gesicht sehen , die Erde für ein Gewächs der grössten und freudigsten Fruchtbarkeit vorzubereiten , — einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft! Der Baum der Menschheit und die Vernunft. — Das, was ihr als Uebervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, giebt dem Hoffnungsvolleren eben die grosse Aufgabe in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüthen, die alle neben einander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden."

Vor dem Erscheinen seines ersten Hauptwerkes Also Sprach Zarathustra von 1881-4 gerät Nietzsches Denken nochmals in eine wirbelnde Bewegung. Vernunft und Wahnsinn werden versuchsweise zusammen gedacht. "Was wißt ihr davon, wie ein Wahnsinniger die Vernunft liebt?" fragt Nietzsche in einer Notiz von 1882. In einem Brief an Franz Overbeek am 20ten Dezember 1882 bekennt er: "Mit aller meiner 'Vernunft' bleibe ich ein leidenschaftliches und plötzliches Wesen; die Einsamkeit ist, je länger je mehr, etwas Gefährliches. — Ich gieng dies Jahr mit einem wirklichen Verlangen zu 'den Menschen' zurück." Die Einsamkeit und Abschottung wird ihm zu viel, wie es auch seinem Zarathustra im gleichnamigen Werk widerfährt. Manchmal hadert Nietzsche in dieser zum Übermensch hochwirbelten Phase gänzlich mit der "Vernunft" und es kündigen sich persönliche Motive an, die bis zu seinem Ende widerkehren werden: "Heute Abend werde ich so viel Opium nehmen, daß ich die Vernunft verliere: Wo ist noch ein Mensch den man verehren könnte! Aber ich kenne Euch Alle durch und durch. Beunruhigen Sie sich nicht zu sehr über die Ausbrüche meines Gräßenwahns oder meiner verletzten Eitelkeit: und wenn ich selbst aus den genannten Affekten mir zufällig einmal das Leben nehmen sollte, so würde auch dann nicht gar zu viel zu betrauern sein." (Brief AN Paul Rée und Lou von
Salomé: gegen den 20. Dezember 1882)

Dieser Wirbel aus Vernunft und Wahnsinn treibt Nietzsches Denken direkt zu einer ersten deutlichen Affirmation der "großen" Vernunft des Leibes: "Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du 'Geist' nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. Ich' sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, — dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiss denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nöthig hat? Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge." (aus Also sprach Zarathustra I: Von den Verächtern des Leibes)

Nach dem Verfassen von Also Sprach Zarathustra widmet sich Nietzsche nocheinmal einem umgehenden Studium der philosophischen Klassiker wie Descartes, Kant, Sokrates, Hume, Schopenhauer etc. In dieser Auseinandersetzung stärkt sich sein Denken nochmals und weist auf die Züge seines Spätwerks hin, in denen sein Frontalangriff auf das Christentum, die klassische Philosophie und seine Vernunft nochmals an Schärfte zunimmt:

Durch diese Zunahme an Konsistenz seiner Thesen nähert sich Nietzsche etwas, das man als affirmative Kritik bezeichnen könne. Also eine Kritik bei gleichzeitigem Zugeständnis der Stärken und sogar Vorzüge des Objekts der Kritik: "Hier hat nicht eine präexistente „Idee“ gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleich gemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden... die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze giebt, mißräth das Leben, — es wird unübersichtlich — zu ungleich — Die Kategorien sind „Wahrheiten“ nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingte „Wahrheit“ ist." (aus einem Nachgelassenem Fragment von 1888)

Gegen dem Ende seines Schaffens setzt sich Nietzsche nochmals intensiv mit den Vernünften auseinander und der Begriff der Vernunft erhält eine klare Aufwertung. Im Antichrist von 1888 wird ganz viel über Perversionen der Vernunft, über eine "kranke Vernunft", eine "gestörte", "verdorbene" oder eine "gehemmte Vernunft" geschrieben, die Kant, Sokrates und dem Christentum entsprungen ist und die große Vernunft des Leibes hemmt.

In seinem letzten Werk Ecce Homo von 1889 ist der Begriff der "Vernunft" nur mehr ausschließlich positiv konnotiert. Neben diversen ökologischen Stoßrichtungen ist besonders auffallend, wie sehr die Abschottung von der Welt mit der Vernunft gleichgesetzt wird: "Sich trennen, sich abscheiden von dem, wo immer und immer wieder das Nein nöthig werden würde. Die Vernunft darin ist, dass Defensiv-Ausgaben, selbst noch so kleine, zur Regel, zur Gewohnheit werdend, eine ausserordentliche und vollkommen überflüssige Verarmung bedingen. Unsre grossen Ausgaben sind die häufigsten kleinen." Ein halbes Jahr später ist Nietzsche in so bezeichneter "geistiger Umnachtung" und nicht mehr ansprechbar. Die komplette Abschottung?

Zum Abschluss der Karte umkreist ein Zitat von Siegmund Freud aus dem Unbehagen in der Kultur von 1930 Nietzsches Kopf in Umnachtung von 1899. Das Zitat lautet: "Energischer und gründlicher geht ein anderes Verfahren vor, das den einzigen Feind in der Realität erblickt, die die Quelle alles Leids ist, mit der sich nicht leben läßt, mit der man darum alle Beziehungen abbrechen muß, wenn man in irgendeinem Sinne glücklich sein will. Der Eremit kehrt dieser Welt den Rücken, er will nichts mit ihr zu schaffen haben. Aber man kann mehr tun, man kann sie umschaffen wollen, anstatt ihrer eine andere aufbauen, in der die unerträglichsten Züge ausgetilgt und durch andere im Sinne der eigenen Wünsche ersetzt sind. Wer in verzweifelter Empörung diesen Weg zum Glück einschlägt, wird in der Regel nichts erreichen; die Wirklichkeit ist zu stark für ihn. Er wird ein Wahnsinniger, der in der Durchsetzung seines Wahns meist keine Helfer findet."

In einem Photoshop-Patchwork ist die gesamte NIETZSCHE VERNUNFT KARTE lesbar hier download- und einsehbar.

für nähere Fragen etc. zur Karte und ihrem Thema stehe ich gerne zur Verfügung unter kilian[at]jorg[dot]at

Die Karte wird vorraussichtlich nächstes Jahr in Berlin ausgestellt werden. Mehr Informationen hierzu folgen noch.