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So., 16. April 2017

Was will der Leierschwanz?

 

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Was will der Leierschwanz1? Der tansanische Vogel – der auf Englisch den bekannteren Namen des lyre birds trägt - steht vor der Smartphonekamera und schallt in ungewöhnlichen Tönen: eine Mischung aus Kameraauslösern, Motorensägen, Spielzeuggewehren und Polizeisirenen schießt der sichtlich aufgebrachte Vogel uns entgegen. Die hinter dem Smartphone unsichtbare Touristengruppe erwidert das gelegentlich mit einem „OMG“, „What the fuck“ oder „Amazing“, im Allgemeinen begnügt man sich aber mit dem stummen Filmen.

Leierschwänze sind berühmt für ihre Fähigkeit zum akustischen Mimikri, mit der sie ihre gesamte hörbare Umwelt spiegeln. Sie imitieren den Gesang anderer Vogelarten, um ihnen ihr Territorium streitig zu machen. Diese glauben dann, es handelt sich um einen potenteren Artgenossen und suchen das Weite. Doch mit ihren von allen Singvögeln am besten ausgeprägten Stimmorgan (Syrinx) können die Leierschwänze noch viel mehr: sie kopieren die Klänge menschlicher Maschinen, Stimmen oder Musikinstrumente. Der Wald wird so streckenweise zu einem akustischen Müllhaufen der nahen humanoiden Zivilisation. Auf dutzend youtube-Videos ist dieses Verhalten dokumentiert, die Rage eines aufgebrachten Leierschwanzes in Polizeisirenen, Radiomelodien und Pistolenschüssen ausgedrückt. Aber im Unterschied zu anderen Tieren verstehen diese hochtechnologisierten Affen die Laute nicht. Sie beanspruchen den Raum des Vogels mit Sägen, Telefonen und Hunden. Diesem versucht er Einhalt zu gebieten, in dem er das ihrige Ritornell singt. Dies ist mein Revier, sagt er in Klingeltönen. Doch die Menschen verstehen das nicht – sein  Verhalten lockt nur noch mehr von ihnen an. „Do it again little bird“ kichert eine Kinderstimme aus dem Off, während der Leierschwanz die Kreissäge anlaufen lässt.

 

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Die Menschen kennen keine Sinne neben dem Sinn. Das Auge leitet sie durch den mobilen und geschlechtlichen Verkehr, großteils aber die Ratio, die große Vernunft zu deren Sinn die geistige Introspektion emporblicken kann. Dass unsere Sprache vielleicht sogar von einem Mimikri des Vogelgesangs stammt, haben wir längst verdrängt. Eine Untersuchung indischer Mantras lässt erkennen, dass diese ähnliche Repetitionsstrukturen wie die Gesänge von Vögeln haben. Da sogar viele Namen solcher alten samans inspiriert von Vogelnamen sind, liegt der Schluss Nahe, dass sich diese im engen Abgleich mit dem in den indischen Wäldern überall hörbaren Zwitscherlauten entwickelt haben. Ihr Sinn, ihre Bedeutung ist dann erst viel später hinzugekommen2.

Unsere Vernunft entsprang also vielleicht aus dem genauen Hinhören zu einer Spezies, die sich evolutionsbiologisch als emanzipierter als der Mensch von seiner Umwelt definieren lässt3. Wie dem auch sei, wir haben diese akustische Weisheit längst vergessen und sind auf dem Sinn, der aus der Verfeinerung der Mantras entstand, hängengeblieben. In seiner zunehmenden Verschriftlichung haben wir uns von der Oralität der Sprache entfernt4 und nur mehr Sinn an Sinn gereiht, ohne der Pluralität von vielsinniger Vernunft noch Gehör, Geruch oder Geschmack zu schenken5. Heute denken wir nur mehr abstrakt und okularzentristisch – selbst wenn wir versuchen, uns einer ökologischen Denkweise anzunähern.

So zeigt sich zum Beispiel, dass bei einer „umweltsensiblen Abholzungsmethode“ zwar optisch kein menschlicher Eingriff festzustellen ist, akustisch aber sehr wohl. Das selektive Herausnehmen einiger weniger Bäume aus einem gänzlich intakt bleibendem Wald hinterlässt zwar visuell keine Spuren. Vergleicht man aber Tonaufnahmen vor und nach den Waldarbeiten, lässt sich feststellen, dass die Anzahl der Vogellaute dramatisch abgenommen hat.

Denn die Kommunikation unter Vögeln ist akustisch: betritt ein neuer Vogel denselben Frequenzbereich, wechselt der alte in eine andere Tonlage. Ist für den Vogel keine ihm erreichbare mehr frei, verstummt er und verschwindet.

Wenn also eine Motorsäge zu laut den akustischen Terretorium von Vögeln beansprucht, hören sich die Vögel nicht mehr, die von den Gesängen initierte Vermehrung bleibt aus, sie ziehen weg. Wissenschaftich betrachtet ist die Umwelt komplett intakt gebliebenen, genauer hingehört kann die akustische Terretorialmarkierung einer Kreissäge für Vögel jahrelang Gültigkeit haben6 und so längerfristig dem gesamten Wald massiv schaden, da seine Samen nicht mehr herumgeflogen werden.

Nicht nur Vögel sind von diese auditiven Einflussnahme des Menschens auf seine Umwelt betroffen: auch Frösche, Korallenriffe und Insekten sind massiv beeinflusst vom – als Beispiel - Übeflug eines Militärjets und lassen sich in ihrem Parungsverhalten signifikant stören7.

Erweitert man das ökologische Denken nur um nur einen weiteren Sinn, muss geschlossen werden, dass viel weniger Flecken auf der Erde menschlich unberüht sind als wir bisher gesehen haben: selbst die weiten Wälder Sibiriens oder Borneos sind durch täglich vielfache Jetüberflüge akustisch vom Menschen kolonisiert – selbst wenn wir uns bisher noch kein Bild von den dort unbekannten Spezien gemacht haben.

 

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Zwar hören wir nicht gut hin, doch Lärm produzieren wir massig. Die akustische Landnahme ist kein unbeabsichtigtes, ungewolltes Verhalten, sondern eine Demonstration von Macht, an der wir Maschinenmenschen teilnehmen. Wir freuen uns gegenüber mächtigem Motorenlärm als Motoristen, fetten Bass als Raver, chaotischen Tumult als Städter. Es gibt uns das Gefühl von Zugehörigkeit – Zugehörigkeit zu Kolonialmacht Mensch.

Selbst bei ökologischen Versuchen wie dem Elektroauto machen sich Autoingineure Sorgen um dessen Absatzfähigkeit mangels „ordentlichem Sounds“8 und in Gerichten diskutiert man bereits, diesen – vorgeblich aus Sicherheitsbedenken – einen künstlich erhöten Lärmpegeln zu verschreiben9. Unserem Machtgefühl sollte auch in Zukunft wenig im Weg stehen, wenn wir über die von Autobahnen begradigten Wald- und Hügellandschaften brausen – da kann der Leierschwanz noch so sehr sein imitatives Stimmorgan überbeanspruchen, in den Faradey‘schen Käfigen hören wir ihn ja doch nicht. Es ist die Umwelt, die sich an uns anpasst – durch Flucht, Verstummen oder Impotenz, in selten verzweifelten Fällen auch durch Mimikri (man denke an junge Kinder, die den Sound von Eisenbahnen, Flugzeugen und Lasergewehren in der Ahnung eines zukünftigen Machtrausches nachahmen).

Unsere Maschinen, wie unsere ganze modernistische Technik ist aus einem visuellen Denkparadigma entstanden und so ist es auch wenig verwunderlich, dass diese keine akustische Sensibilität für ihre Umwelt haben. Wenn ich im Sommer am Badesee eine Ukulele höre, vermengt sich diese ohne Weiteres in das akustische Ambiente aus Vogel-, Hunde- und Kinderstimmen, trällert jedoch eine Boombox aus irgendeinem Winkel, nimmt sie einen Raum ein, der sich nicht in den restlichen integrieren lässt: der von ihr bespielte Frequenzbereich wird von einem transzendenten Datenhimmel aus 1en und 0en diktiert, die in diesem binären Reduktionismus nicht auf das Schon-Dagewesene eingehen können.

 

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Dieser transzendente Rationalismus hat sich über lange Jahrhunderte der Musikproduktion bemächtigt und diese nach den ihr zuspielenden Paradigmen kolonisiert. Folkloristisches und indigenes Musizieren wurde von der Kirche sanktioniert. Durch das Aufkommen der musikalischen Notation um das 13te Jahrhundert entstand zunehmend eine Form der Musikproduktion, die sich von der Interaktion mit Umweltklängen emanzipierte und nach einem abstrakten Codeschema operierte10. Dies geschah im engen Abgleich mit den künstlich geschafften Umwelten, in denen sich die Musik entwickelte: von der Leipziger Thomaskirche in der Johann Sebastian Bach seine musikalisch genau errechneten Harmonien errechnete bis zu den weiten, hallenden Konzerthäusern für die Mahler und Wagner ihre Musik komponierten. Mit der Einfühung von elektronischer Technik veränderte sich die Musikproduktion nochmals signifikant: durch das Mikrophon und die Übertragung über Radiomagnetwellen direkt ins Wohnzimmer konnte Chet Backer so leise seine Liebesbeteuerungen säuseln, wie in einer Livekonzertsituation unmöglich gewesen wäre. Seit es Walkman, Discman und dann MP3-Player gab, konnten bis dahin unmögliche Details bei relativ geringer Dynamik in der Musik verwirklicht werden11.

Hier gibt es also zwei komplimentäre Dynamiken: die veräußerlichte, laute Maschinenmusik und die leise wispernde Musik, die ohne die Maschinen nicht funktionieren würde. Wo Boomboxen, Lautsprecher und Motorenklänge eine modernistische Kolonisierung der Umwelt darstellen, entspricht die elektronisch-produzierte Kopfhörermusik einem romantischen Biedermeier, in dem man sich in eine traute, kleine Nische bei turbulentem Außen einhegt. Das laute Außen verstärkt das Bedürfnis nach einem sanften Innen und das sanfte Innen bedarf lauter Maschinen.

Wir hören nicht hin, weil wir massig Lärm produzieren. Von den veräußernden Maschinen ist die Welt so laut geworden, dass sie unangenehm, hässlich und sogar gesundheitsschädigend12 geworden ist. Um dem zu entgehen, stecken wir uns Kopfhörer rein, die durch eine Negativ-Spiegelung der Sinuswellen künstliche Stille durch Verdoppelung des Klangmaterials simulieren können13. In der so produzierten Stille lauschen wir dann sanften Tönen, die es Außen nicht gibt.

Dass die Produktion dieser Stille wiederum Maschinen bedarf, davon wollen wir nichts hören. Das einundzwanzigste Jahrhundert: Umspült vom Maschinenlärm, der uns selbst nicht mehr geheuer ist, verkriechen wir uns in das intime Flüstern von glatten Endverbrauchermaschinen. Diese befreien uns von der hässlich gemachten Umwelt, wir intensivieren unsere eigenen, künstlichen Umwelten, die immer solipsisitscher werden: individuell angepasste Playlists, individuell angepasste Werbung, individuell angepasste Suchergebnisse. Im geschlossenen Feedbackraum, der echochamber, werden wir in Ruhe gelassen von der hässlichen Welt. Außer der Leierschwanz taucht auf am youtube-Channel, den wir aus selbstreferentieller Langeweile weitergeklickt haben, und singt uns ein Lied davon.

1 https://www.youtube.com/watch?v=qTiAAHvwU8U

2 Vgl. Staal, Frits; Matras and Bird Songs.

3 S. 40 aus Reichholf, Josef H.: Stabile Ungleichgewichte – Die Ökologie der Zukunft. Suhrkamp: Frankfurt / Main 2008.

4 Obwohl die aus dem Indus-Tal hervorgegangene Hochkultur zu einer der ältesten bekannten zählt, scheint sich dort im Vergleich zum chinesischen, ägyptischen, babylonischen oder aztektischen Kulturraum nur sehr spät eine Schriftkultur herausgebildet zu haben. Erst ab der Herrschaft des Mayura-Königs Asoka im dritten Jahrhundert vorchristlicher Zeitrechnung lassen sich Schriftzeugnisse archeologisch belegen. Davor scheint man bereits bedutungstragende Mantras durch eine regulierte Rekonfiguration der einzelnen Silben kodifiziert zu haben, wodruch ähnliche Charakteristika wie bei der Schrift erzielt wurden, die deren Entwicklung erst sehr spät notwendig machte. Vgl. hierzu: Salomon, Richard: On the Origin of Early Indian Script. Interessant ist in diesem Zusammenhang weiters, dass das Indus-Tal die einzige bekannte, hochkulturelle Brutstädte ist, in der sich keine Götzen oder andere Heiligkeiten finden lassen. Vgl. S.178 ff. aus Renfrew, Collin: Pre-History - The Making of the Human Mind. Phoenix: London 2008. Ob dies mit dem späten Aufkommen der Schriftkultur zusammenhängt, soll hier zur Spekulation gestellt werden.

5 Vgl. S. 97 aus Serres, Michel: Musique. Éditions Le Pommier: Paris 2011.

6 Vgl. S. 68 ff. aus Krause, Bernie: The Great Animal Orchestra – Finding the Origins of Music in the World‘s Wild Places. Little Brown & Company: New York, Boston, London 2011.

7 S. 176 ff. ebenda.

8 Dies hat es mir der Magna-Ingeneur Andreas Merkel in einem persönlichen Gespräch verraten.

9 http://derstandard.at/2000044035526/Kein-Pausenknopf-Auch-E-Autos-muessen-kuenftig-Laerm-machen

10 S. 140 ff. aus Krause, Bernie: The Great Animal Orchestra – Finding the Origins of Music in the World‘s Wild Places. Little Brown & Company: New York, Boston, London 2011.

11 Für den gesamten Abriss dieser kleinen Architekturgeschichte der Musik vgl. den Ted-Talk von David Byrne „Wie Architektur die Entwicklung unserer Musik beeinflusste“ auf https://www.ted.com/talks/david_byrne_how_architecture_helped_music_evolve?language=de#t-618651

12 Über die Auswirkung von zu viel Lärm auf die Gesundheit vgl. S. 162 ff. in Krause, Bernie: The Great Animal Orchestra – Finding the Origins of Music in the World‘s Wild Places. Little Brown & Company: New York, Boston, London 2011.

13 Bei Kopfhörern mit aktiver Lärmkompensation (Active Noise Cancelation) wird unerwünschter Lärm durch destruktive Interferenz ausgelöscht. Dabei wird ein akustisches Signal hinzugefügt, welches genau die entgegengesetzte Polarität des Störtons hat und durch diese Doppelung der Wellen dem menschlichen Trommelfell Stille vorgaukelt